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Bisafans Adventskalender 2022: 14. Türchen

Stille. Das Erste, was N umfing, war Stille. Seine Augen blickten in die Dunkelheit, die jegliches Licht verschlang. Mit klopfendem Herzen stand er hier, in einer Höhle unterhalb der Pokémonliga von Einall. Vor Team Plasmas Versteck, dem Schloss. Seinem Schloss. N war nach Monaten seit seinem Aufbruch das erste Mal wieder hier, doch nun konnte er sich nicht dazu bewegen, sein altes Zuhause zu betreten. Ihn fröstelte, denn die Höhle, in der er sich befand, war kühl, draußen tobte ein heftiger Schneesturm und wehte weiße Flocken an ihn heran. Kein Wunder, es war bereits Dezember, seit Wochen schneite es unaufhörlich in ganz Einall, als wollte der Schnee alles unter sich bedecken. „Dezember“, dachte N. „Genau wie damals...“

In seinen Armen lag Zorua und winselte leise vor sich hin, doch N versuchte es zu beruhigen. „Ganz ruhig. Es ist alles in Ordnung. Alles in Ordnung.“ Eigentlich, so wusste er, sprach er mehr mit sich selbst als mit seinem treuen Begleiter, denn auch er fühlte sich mehr als unwohl hier. Seine ganze Vergangenheit quälte ihn, noch immer, nach all der Zeit. Er konnte nicht vergessen, wie G-Cis, sein eigener Vater, ihn hatte einsperren lassen und dann so manipulierte, dass N nicht mehr als eine einfache Marionette für ihn wurde. G-Cis hatte ihn belogen, sein ganzes Leben lang, ihm eingeredet, Menschen und Pokémon dürften nicht weiter in einer Welt existieren. Schließlich seien die Menschen die Feinde der Pokémon, brachten ihnen ausschließlich Schmerz und Verzweiflung. Oh, wie sehr N den Worten seines Vaters Glauben geschenkt hatte! Er sah ja selbst, wie Trainer ihre armen Kameraden in sinnlose Kämpfe schickten, wie die Pokémon immer und immer wieder verletzt wurden.

N schloss die Augen, um seine düsteren Gedanken zu vertreiben. Es stimmte, manche Menschen behandelten ihre Pokémon schlecht. Doch er hatte mittlerweile so viele Trainer getroffen, die ihre Kameraden liebten, sich um sie kümmerten, ihnen ein Zuhause gaben. Alles Dinge, die sein eigener Vater nie für N getan hatte...

Jenen Trainern, die achtsam mit dem Leben ihrer Freunde umgingen, durfte, ja wollte er gar nicht ihre Pokémon wegnehmen. Zumindest nicht mehr. In seiner begrenzten Weltsicht hatte N angenommen, alle Menschen seien gleich schlecht. Doch das dies nicht stimmte, hatte er erst schmerzhaft lernen müssen.

N war also wieder hier, in seinem alten Zuhause, und traute sich nicht einmal mehr, einzutreten. Dabei wollte er sich doch seinen Dämonen stellen, diesen Ort aufsuchen und endgültig mit seiner Vergangenheit abschließen. So viel war hier, in diesem Schloss, geschehen, er war vom Kind zum Mann gereift, hatte sich zum auserwählten König von Team Plasma erklären lassen und schließlich auch dessen Untergang besiegelt. Er hatte eigenhändig zerstört, was sein Vater jahrelang aufgebaut hatte, in einem einzigen Moment. Dem Moment, in dem N sich von G-Cis abwendete.

N seufzte und trat zögernd einen Schritt ins Innere des Schlosses. Es half alles nichts, er konnte nicht ewig hier draußen in der Kälte stehen bleiben und darauf hoffen, dass seine Furcht verschwand. Überhaupt, wovor fürchtete er sich? Niemand war hier, zumindest vermutete das N, niemanden würde er sich erklären müssen. Schritt für Schritt wurde er Eins mit der Dunkelheit, doch nach einer Weile konnte er besser sehen. Staub tanzte sacht durch die stehende Luft, die seit Ewigkeiten keinen Windhauch zu spüren haben schien. Putz rieselte von der Decke, hier und da lagen Trümmer von Statuen und Säulen. Staub und Zerstörung. Scheinbar alles, was N hinterlassen zu haben schien. Ein bitteres Lächeln erschien auf seinen Lippen. Das Innere des Schlosses spiegelte sehr wohl sein Seelenleben wieder, er fühlte sich gleichwohl wie ein Trümmerhaufen. Zögernd lief er weiter in die Dunkelheit, und lauschte, ob sich nicht doch noch jemand im Schloss befand. Aber nur die Stille begleitete N, der Zorua nun zu Boden ließ und gemeinsam mit ihm sein altes Zuhause erkundete.

Nach kurzer Zeit verließen beide das Erdgeschoss, erreichten die Treppe zu den oberen Gemäuern. Ns eigentliches Ziel. Einen Moment blieb er oben angekommen vor seinem alten Kinderzimmer stehen, doch es interessierte ihn nicht mehr. Dieser Raum war für Jahre sein einsames Refugium gewesen, und N sah keinen Sinn mehr darin, ihn erneut aufzusuchen. Wer wusste schon, was ihn dort erwartet hätte? Vielleicht war auch hier nach seiner Flucht mit Reshiram, dem weißen Drachen der Wirklichkeit, alles zerstört worden? „Anzunehmen wäre es“, dachte N, denn das Schloss befand sich in keinem guten Zustand, seit keine Menschenseele hier mehr lebte. Und dieser Raum war nur noch ein altes, verlassenes Zimmer für ihn, angefüllt mit traumatischen Erinnerungen. Nichts weiter...

N und Zorua, das dicht neben seinem Begleiter herlief, erreichten endlich ihr eigentliches Ziel. Der Thronsaal. Als N eintrat, stockte ihm kurz der Atem, so überwältigend war der Anblick. Auch diese Gemäuer waren der Zerstörung zum Opfer gefallen, dennoch strahlte jeder Winkel, jeder einzelne Zentimeter Würde aus. Eine königliche Würde, die N jedes Mal aufs Neue gespürt hatte, wenn er sich im Thronsaal befand. Schon als Kind hatte er diesen Saal geliebt, wenn er etwa verbotener weiße fortgelaufen war und sich hinter einer der zahlreichen Steinsäulen versteckt hatte. Und erst der Tag seiner Krönung! N wurde warm ums Herz, als er an jenen Tag zurückdachte, an dem er der König von Team Plasma wurde. Es stimmte, diese Organisation hatte so viel Leid und Kummer über die Menschen von Einall gebracht, und es verging keine einzige Minute, in der N sich nicht dafür hasste, das Symbol dafür gewesen zu sein. Aber an diesem Tag, an diesem einzigen Tag, war er das erste Mal in seinem Leben wirklich glücklich gewesen...

Langsam schritt er vor, immer weiter auf den Saal zu, wie damals, als er König wurde. Auch zu diesem Zeitpunkt war Dezember gewesen, und während tausende Lichter die Krönungszeremonie erleuchtet hatten, tanzten Schneeflocken vor dem festlich geschmücktem Schloss.

Zorua blieb hinter ihm zurück, betrachtete ihn verwundert, denn N bewegte sich mittlerweile wie in Trance. Er selbst nahm das gar nicht mehr wahr, Erinnerungen stürzten auf ihn ein, von den Augenblicken seiner Krönung. „Wie ein Traum...“, murmelte er, doch seine Worte blieben für fremde Ohren lautlos. N blieb an der breiten Treppe zum Thronsaal stehen. Hier hatten die Sieben Weisen auf ihn gewartet, sich vor ihm verbeugt, und er hatte es ihnen gleich getan. Plötzlich mochte N seinen Augen nicht mehr trauen. Da standen die Sieben Weisen auch jetzt vor ihm, und verbeugten sich erneut, wie vor all der Zeit! Doch N verspürte keinerlei Angst vor diesen Trugbildern, er zögerte zunächst, erwiderte dann aber den Gruß der Weisen.

Als er seinen Blick dem Thronsaal zuwandt, sah er aber dutzende Mitglieder von Team Plasma, in ihren blauen und weißen Kleidern, wie sie tanzten und lachten und der Musik lauschten. Musik? Mit einem Mal glaubte N wunderschöne Klänge zu hören, Flöten und Pauken, ein Klavier, Glocken und allerlei mehr. Ein geisterhafter Chor begleitete die unsichtbare Komposition, und sein Herz begann im Rhythmus der Musik zu schlagen. Beinahe übermütig sprang er nun in die tanzende Masse seiner Untertanen, wirbelte umher und lachte, überglücklich und verzückt von diesem Zauber.

Gerade wollte er eine junge Dame auffordern, mit ihm zu tanzen, als er drei Gestalten auf sich zukommen sah. Das Finstrio! G-Cis‘ ergebene Diener, die stets im Schatten verborgenen Männer, rannten auf N zu. Doch ihre Mienen waren nicht wie üblich versteinert, ihre Augen nicht eiskalt, nein, sie strahlten ihn an und ein Lachen zierte ihre Gesichter. Und ihre Gewänder! Silberne Seide schmückte die muskulösen Körper der Drei, lindgrüne Tücher hielten ihr nebelweißes Haar zurück.

„Sie sind so schön...“, dachte N, „Wie Engel sehen sie aus.“ Im Vergleich mit dem Finstrio schämte er sich regelrecht für sein altes Hemd und seine abgewetzten Schuhe. Aber die drei Männer schien nichts davon zu stören, zwei nahmen N bei der Hand, tanzten mit ihm im Kreis, hielten ihn im Arm und wirbelten durch die tanzende Meute. N bemerkte, wie ein Mitglied des Finstrios vor ihn trat und in seinen Händen eine goldene Krone hielt. Die Krone! Die Krone des Königs von Team Plasma! Er spürte, wie das kalte Gold sanft auf seinen Kopf gesetzt wurde, dann sah er den jungen Mann vor ihm lächeln und entschwinden, als fürchte der Schatten das Licht, das von N ausging.

„Ich bin ihr König“, hallte es in Ns Gedanken nach, „und sie vertrauen auf mich!“ Wie von Zauberhand erschien das Krönungsgewand auf seinen Schultern, der hellblaue Umhang bedeckte in einer fließenden Bewegung die grauen Stufen zu seinen Füßen. „Ich bin ihr König, ich gehöre hierher.“ N tanzte immer wilder, geleitet von der Musik und seinen Untertanen um ihn herum. „Ich gehöre hierher. Das ist mein Zuhause. All dies gehörte mir, und ich warf es einfach hinfort.“ Er blieb stehen, als ihm diese Worte bewusst wurden, doch nicht nur deswegen rührte er sich nicht mehr. Vor ihm sah er seinen Vater auf sich zukommen, begleitet von der Muse des Friedens und der Muse der Liebe. Auf G-Cis‘ Zügen lag ein zufriedenes Lächeln, nicht bösartig, nicht berechnend, sondern... liebevoll. Wie ein Vater, der stolz auf seinen Sohn war. Der ihn wirklich liebte.

Als G-Cis seine Hände nahm und begann, langsam mit ihm zu tanzen, bemerkte N dies kaum noch. Viel zu überwältigt war er von diesem Anblick, diesem Moment, der unmöglich real seien konnte. Sein Vater blieb stehen, beugte sich sacht zu ihm, und gab N einen kaum spürbaren Kuss auf die Stirn, wie ein Versprechen aus einer längst vergessenen Zeit. Dann ließ er seinen Sohn los, trat zurück, und verschwand im Nichts.

Zutiefst erschrocken über diese Geschehnisse fiel N zu Boden, griff noch im Fallen nach seinem Vater, aber es war zu spät. Alles, was er fassen konnte, war Luft, war Dunkelheit. N saß einige Herzschläge nur auf dem kalten Steinboden. Dann sah er sich um. Nichts. Nirgendwo tanzten Leute zu seinen Ehren, nirgends spielte Musik. Der Thronsaal war nicht erleuchtet, er lag in der Finsternis, deren Mittelpunkt nun N war. Er trug keine Krone, kein Gewand, er war immer noch nur er selbst, der sich in einer Erinnerung verloren hatte. Aber dies war keine bloße Erinnerung gewesen. Es war ein Traum, Ns Ideal seiner eigenen kleinen, bescheidenen Welt. Mehr wollte er doch nicht als jene Illusion, der er sich vor wenigen Augenblicken hingegeben hatte.

Glückliche Untertanen.

Ein Finstrio, das nicht den Schatten zum Opfer fiel.

Er selbst, der frei und ungezwungen leben durfte.

Und einen Vater, der ihn liebte.

N verstand, es war tatsächlich alles nur ein Traum gewesen. Und dieser Traum konnte niemals mehr Wirklichkeit werden, denn N hatte ihn mit seinen eigenen Händen zerstört. „Ich wollte nur noch ein letztes Mal in meinem alten Zuhause glücklich sein...“, dachte er traurig. Aber es war vorbei, dieses Glück würde nie wieder kommen.

Es war einmal, vor viel zu langer Zeit.

Es war einmal im Dezember.